Frank Schäffler

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Ein neuer Kurs für die EU

Photo by Jonathan Smith on Unsplash

Die Europawahl ist gelaufen. Die Wunden sind noch nicht geleckt, doch schon treffen sich die Staats- und Regierungschefs zum EU-Gipfel in Brüssel, um über die Zukunft der Europäischen Union zu beraten. Dabei geht es in erster Linie um die Personalfragen. Wer wird Kommissionspräsident für den scheidenden Jean-Claude Juncker, wer folgt Mario Draghi als EZB-Präsident und wer beerbt Donald Tusk als Präsident des Europäischen Rates? Die Antworten auf diese Fragen ziehen zahlreiche weitere Personalentscheidungen nach sich. Wer wird EU-Kommissar, wer davon Vize-Präsident? Wer rückt ins Direktorium der EZB auf und wer wird Präsident des Parlaments der EU? Fragen über Fragen, deren Beantwortung den Wählern dann irgendwann mitgeteilt wird.

So wichtig Personalfragen sind, so wenig können diese die institutionellen Mängel der EU beseitigen. Doch gerade dies wäre jetzt notwendig. Der offenkundige Vertrauensschwund, der in dieser Wahl wieder überdeutlich sichtbar wurde, hat gerade damit zu tun, dass die Europäische Union nicht ausreichend transparent und die Aufgaben und Zuständigkeiten nicht ausreichend abgegrenzt sind.  Kurz: die Europäische Union ist zu wenig demokratisch, zu wenig rechtsstaatlich und zu wenig subsidiär.

Der Grund hierfür liegt möglicherweise daran, dass die Europäische Union in ihrer heutigen Form nicht in einem einzelnen Kraftakt entstanden ist, sondern sich über viele Jahrzehnte entwickelt hat. Mit einfachen Vertragsänderungen wollte man die Handlungsfähigkeit der Institutionen erhalten. Aus anfänglich sechs Gründungsmitgliedern wurden sukzessive mehr. Mit der Osterweiterung der EU 2004 von 15 auf 25 Mitglieder stieß man bereits an Grenzen. Inzwischen sind mit Bulgarien, Rumänien und Kroatien weitere Mitglieder hinzugekommen. Auch wenn Großbritannien am Ende doch noch austritt, reicht es nicht aus, die Institutionen, seien es das Parlament oder die Kommission, einfach nur zu vergrößern.

Aber die Analyse wäre zu kurz gesprungen, wenn lediglich auf das Wachstum der EU abgezielt würde. Es mangelte von Beginn an auch an der Klarheit, wie eine demokratische, eine rechtsstaatliche und eine subsidiäre Europäische Union aussehen könnte. Gerade diese Klarheit wäre jetzt notwendig. Denn erst diese Klarheit schafft den Raum für ein Ideal, das man sicherlich nicht perfekt umsetzen können wird, aber an dem man sich fortwährend orientieren kann. Es fehlt daher ein Kompass, der einen immer wieder auf den richtigen Weg führt.

Diese Lagebeschreibung ist nicht neu. Darauf hat vor einiger Zeit bereits eine Gruppe von Ökonomen aufmerksam gemacht, die unter dem Namen „European Constitutional Group“ umfassende institutionelle Änderungen der EU vorgeschlagen haben, um die wachsende Kluft zwischen den Bürgern und der Europäischen Union zu verringern. Bereits im Vorfeld des von den Staats- und Regierungschefs 2004 unterzeichneten EU-Verfassungsvertrag, der durch Referenden in Frankreich und den Niederlanden später scheiterte, hat diese Ökonomengruppe einen alternativen Aufbau der EU vorgeschlagen, der in seiner Klarheit nicht an Strahlkraft verloren hat. Eine Auswahl der Vorschläge soll dies verdeutlichen:

  1. Das Europäische Parlament besteht aus zwei Kammern. Die erste Kammer (500 Mitglieder), die direkt gewählt wird, hat ein Initiativrecht, ein Vetorecht sowie ein Fragerecht gegenüber dem Europäischen Rat. Die zweite Kammer (500 Mitglieder), deren Vertreter von nationalen Parlamenten einmalig auf fünf Jahre entsandt werden, hat ein Vetorecht bei subsidiären Fragen, ein eigenes Initiativrecht sowie ebenfalls ein Fragerecht. Bei gemischten Zuständigkeiten zwischen nationaler und europäischer Ebene müssen beide Kammern einem Gesetzgebungsverfahren zustimmen. Bei alleiniger Zuständigkeit der EU (z.B. Handelsfragen) kann die erste Kammer alleine entscheiden.
  2. Der Europäische Rat fungiert als „Hüter“ aller europäischer Institutionen und legt die Grundlinien der Politik fest. Er handelt auf Anfrage und Initiative einer der beiden parlamentarischen Kammern. Er entscheidet mit Zwei-Drittel-Mehrheit. Für den Fall, dass es nicht um Handelsfragen geht, kann ein Mitgliedsstaat ein Veto einlegen.
  3. Die Kommission verliert ihr Initiativrecht für Gesetzgebungsvorhaben und wird zu einem öffentlichen Dienst, der dem Europäischen Rat untergeordnet ist. Sie ist die Administration, die gemeinsam mit dem Ministerrat die Gesetzgebung vorbereitet.
  4. Die Richter des Europäischen Gerichtshofes sollten von den höchsten nationalen Gerichten auf Zeit entsandt werden. Eine Wiederwahl ist auszuschließen. Entscheidungen über die Zuständigkeit der EU sollten dagegen nicht vom Europäischen Gerichtshof entschieden werden. Stattdessen sollte ein „Court of Review“ mit nationalen Richtern, die über Streitigkeiten, die das Subsidiaritätsprinzip oder das Prinzip der Verhältnismäßigkeit betreffen, entscheiden.
  5. Neben dem Euro sollen weitere Währungen als Parallelwährungen möglich sein. Länder, die fortwährend die Bestimmungen gegen übermäßige Haushaltsdefizite verletzen, scheiden automatisch aus der Währungsunion aus. Mitglieder des EZB-Rates dürfen nicht an Sitzungen des Parlaments oder des Europäischen Rates teilnehmen.
  6. Eine Mindestzahl von Bürgern aus einer qualifizierten Minderheit der Mitgliedsstaaten soll befugt sein, eine EU-weite Volksabstimmung zu erwirken.

Diese Vorschläge sind sicherlich nicht umfassend und müssen noch präzisiert und ergänzt werden. Jetzt ist es aber an der Zeit, die Diskussion über institutionelle Änderungen endlich zu beginnen.

Der deutsch-britische Liberale Ralf Dahrendorf war selbst Kommissar der Europäischen Gemeinschaft. Er kannte die institutionellen Schwächen auf europäischer Ebene. Über die EG sagte er einmal: „Kein zentralistisches, sondern ein föderal aufgebautes Europa, organisiert nach dem Prinzip der Vielfalt, wird das Europa der Zukunft sein.“ Das ist richtiger denn je.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Prometheus – Das Freiheitsinstitut.

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