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Marktwirtschaft ist ein Entdeckungsverfahren. Die Marktteilnehmer suchen ständig nach besseren und effizienteren Produkten und Verfahren. Historisch hat dieser Entdeckungsprozess immer wieder zu Technologiesprüngen geführt. Die Erfindung der Dampfmaschine Ende des 17. Jahrhunderts, die Einführung der Webmaschine im 18. Jahrhundert, des Automobils Ende des 19. Jahrhundert und des Internets im 20. Jahrhundert sind nur die herausragendsten historischen Neuerungen. Alle diese Technologiesprünge hatten eines gemeinsam: Sie ließen sich nicht aufhalten. Länder, die es versucht haben, sind zurückgefallen und haben langfristig an Wohlstand verloren. In den Staaten, die diese Entwicklung zugelassen oder sogar Hindernisse beseitigt haben, profitierten auch breite Schichten der Bevölkerung.
Im 21. Jahrhundert folgt diesen epochalen Entwicklungen eventuell die Distributed-Ledger-Technologie, speziell die Blockchain-Technologie. Die Blockchain-Technologie basiert auf einer dezentral verteilten digitalen Datenbank, um beispielsweise digitale Zahlungen vorzunehmen, Prozesse zu dokumentieren oder Eigentum nachzuweisen. Die Blockchain-Technologie hat das Potenzial, bisherige Produktionsprozesse, den Zahlungsverkehr, aber auch hoheitliche Aufgaben grundlegend zu verändern. Erstes und prominentestes Anwendungsfeld war die Kryptowährung Bitcoin. Inzwischen gibt es zahlreiche andere Anwendungen. Hier sticht besonders das Ethereum-Netzwerk heraus, das sogenannte Smart Contracts ermöglicht. Diese digitalen Verträge werden automatisch nach einer festgelegten Bedingung ausgeführt. Gerade für kleinteilige Prozesse ist dies von Vorteil. Diese Automatisierung ist schneller und effizienter als herkömmliche Verfahren.
Doch viele sehen in der Dezentralität und der teilweise Abwesenheit von identifizierbaren wirtschaftlich Berechtigten die Gefahr des Missbrauchs. Besonders Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung werden hier genannt. Diesen Vorwurf relativiert die nationale Risikoanalyse des Bundesfinanzministeriums in ihrem Bericht von 2019. Darin wird sowohl die Terrorismusfinanzierungs- als auch die Geldwäschebedrohung mittels Kryptowerten als „niedrig“ beziehungsweise „niedrig-mittel“ bewertet.
Eine neue Bundesregierung sollte daher die Rahmenbedingungen so setzen, dass sich in Deutschland die Distributed-Ledger-Technologie entwickeln kann. Folgende Handlungsfelder sind dabei von Bedeutung:
Erstens: Im Juni dieses Jahres veröffentlichte das Bundesfinanzministerium einen Entwurf für ein Rundschreiben zur ertragsteuerlichen Behandlung von virtuellen Währungen und Token. Neben wichtigen Klarstellungen führt die Interpretation verschiedener Konsensalgorithmen zu erheblichen Verwerfungen. So sollen Erträge aus dem sogenannten Staking – das Bereitstellen von Kryptowerten für den Konsensmechanismus im Netzwerk – erst nach einer Haltefrist von zehn Jahren steuerfrei bleiben. Der Übergang vom sogenannten Proof-of-Work-Verfahren, für das besonders die Kryptowährung Bitcoin wegen des hohen Energieverbrauchs in der Kritik steht, auf das Proof-of-Stake-Verfahren, auf das jetzt das Ethereum-Netzwerk umstellen will, ist energiepolitisch sinnvoll. Dies steuerlich zu diskriminieren führt lediglich dazu, dass das Staken künftig in Deutschland nicht stattfinden wird. Besser wäre es, die daraus realisierten Krypto-Erträge unabhängig davon, auf welchem Konsensmechanismus sie beruhen, nach einem Jahr steuerfrei zu stellen oder pauschal zu besteuern.
Zweitens: Der Wertpapierhandel ist in Deutschland durch viele Intermediäre teuer und ineffizient. Schon die Vorgängerregierung hat deshalb elektronische Inhaberschuldverschreibungen gesetzlich ermöglicht. Diese können auf einer dezentralen Blockchain gehalten und übertragen werden. Die Ampel-Koalition will diesen Schritt jetzt konsequent weitergehen und das elektronische Wertpapiergesetz auch auf Aktien und andere Wertpapiere ausdehnen.
Drittens: Bereits Anfang 2020 hat der Bundestag das Kryptoverwahrgeschäft in Deutschland reguliert. Wenige Platzhirsche und große ausländische Player können seitdem in Deutschland agieren. Doch junge Unternehmen hadern mit der Schwerfälligkeit der Finanzaufsicht BaFin, die oft Monate benötigt, um Anträge zu bearbeiten. Sinnvoll wäre ein stärkerer und regelmäßiger Austausch zwischen jungen Fintechs und der Finanzaufsicht. Dies könnte in einer „Sandbox“ nach britischen Vorbild geschehen. Beide Seiten könnten voneinander lernen und profitieren.
Viertens: Der Gesetzgeber und die Finanzaufsicht müssen bei der Beurteilung von Kryptowerten differenzierter vorgehen. Will man das Potenzial von Smart Contracts nutzen, dann kann nicht zu jeder Zeit der wirtschaftlich Berechtigte ermittelt werden. Damit läuft diese Anforderung ins Leere. Hier braucht es Ausnahmeregelungen.
Fünftens: Der größte regulatorische Stolperstein könnte die geplante EU-Regulierung von Kryptowerten in der „Verordnung über Märkte für Kryptowerte“ (MiCA) werden. Mit MiCA war die Absicht verbunden, die Facebook-Währung Diem zu erschweren, wenn nicht zu verhindern. Schon die Drohung der Regulierung hat Meta, wie Facebook inzwischen heißt, mit seinem Projekt aus Europa vertrieben. Jetzt schüttet die EU-Verordnung das Kind mit dem Bade aus. Das gerade aufblühende Decentralized-Finance-(DeFi-)-Universum wird vernichtet. Der Verordnungsentwurf sieht zwingend eine juristische Vertretung in der EU vor. Dies ist sogenannten Decentralized Applications nicht möglich. Per Definition gibt es keinen Inhaber und keine juristische Vertretung. Überdies sind die administrativen Kosten von MiCA erheblich und für junge Start-ups eine unüberwindbare Markteintrittshürde. Auch hier muss es Ausnahmeregelungen und Schwellenwerte geben, sonst verschwindet diese Technologie aus Europa.
Laut Chainalysis haben Zentral-, Nord- und Westeuropa zwischen Juli 2020 und Juni 2021 mit 25 % den größten Anteil an allen Kryptotransaktionen. Osteuropa eingeschlossen, sind es gar etwa 35 %, während Nordamerika in dieser Periode bei 20 % lag. Die aktuellen Regulierungs- und Besteuerungsabsichten könnten diesen Vorsprung zunichtemachen. Das wäre fatal. Europa und Deutschland haben die frühen Jahre des Web 1.0 und 2.0 verpasst; große Tech-Unternehmen kommen nun aus dem Silicon Valley oder China. Deutschland und die EU brauchen eine moderne und atmende Regulierung, die die Dezentralität des Kryptobiotops versteht, schnelle Zulassungsprozesse ermöglicht – und klare sowie transparente Regeln vorweist. Gelingt uns dies, können wir den Wandel zum Web 3.0, das auf den tiefen europäischen Werten der Dezentralität und Subsidiarität beruht, maßgeblich mitgestalten. Diese Chance sollten wir im 21. Jahrhundert nutzen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Börsen-Zeitung.